Das Üllershäuser Gänschen
Zwischen der Heu- und der Getreideernte hatten sich an der Pfordter Fuldamühle die Gänse aus dem gesamten Fuldagrund versammelt, um bei Gänsewein und Klee einmal ein ausgiebiges Palaver zu halten. Aus Hemmen waren sehr viele gekommen, die Hartershäuser hatten sogar ihre Küken dabei, und die Üllershäuser und die Pfordter Gänse schnatterten so aufgeregt, dass man kaum sein eigenes Wort verstand.
Sie redeten über die schlechten Zeiten, und wie es nur weitergehen soll, und dass man sich ja auch viel zu selten sieht. Sie schnatterten vom Kükenbrüten und vom Heiraten, und auch der Tratsch kam nicht zu kurz: Was sie nicht alles zu erzählen hatten von Gicke Grett und Gacke Hei*.
Und dann wurde auch über die Männer geschimpft: „Die lassen sich ja kaum noch zuhause blicken! Erst haben sie uns die Kinder aufgehalst, und hintenrum wird jetzt fremdgebalzt.“
Sie sprachen sich richtig aus, keinen Augenblick gaben sie Ruhe, und immer wackelten sie dabei aufgeregt mit den Schwänzen. Der Hahn aus der Pfordter Mühle, der Zeuge des ganzen Schauspiels wurde, konnte nur die Augen verdrehen. Aber was sollte man von Gänsen schon anderes erwarten?
Das Üllershäuser Gänschen aber, das saß ganz still in seiner Ecke, kaute schon seit einer halben Stunde auf einem Körnchen rum und verdarb mit seiner traurigen Miene der ganzen Gänsegesellschaft den Spaß. „Ach, ihr könnt mir’s glauben! Und so und so und überhaupt!“ Es klagte vor sich hin, grämte sich, und den anderen verging dabei das Lachen.
Die Pfordter Gans, die dick und breit und wohl ziemlich selbstzufrieden daneben saß (und die sich überhaupt nicht an dem grünen Flecken störte, den sie schon auf dem Kleid hatte), wollte die Gesellschaft beruhigen: „Ihr lieben Leute, jetzt macht mal ganz ruhig, das ist doch wirklich nichts Neues. Das hab ich doch alles schon erlebt. Wir müssen jetzt noch mal ein paar Wochen den Gürtel enger schnallen, aber danach geht’s wieder aufwärts. Dann läuft im Dorf die Dreschmaschine – sei nur geduldig, Karoline!“
Das Gänschen aus Üllershausen schaut sie fragend an: „Christine, glaubt ihr das wirklich? Ach ja, das wären ja Gottesgaben, aber ich, ich werde das nicht mehr erleben.“
*Die offiziellen Namen der beiden sind leider nicht überliefert. Wahrscheinlich sind Gicke und Gacke nur die Hausnamen und es ist gut möglich, dass die beiden sich ganz banal Fischer, Wahl oder Schmidt schrieben. Von den Taufnamen Margarete und Heinrich könnten wir dagegen mit ziemlicher Sicherheit ausgehen – wenn denn bei den Gänsen die Taufe üblich wäre…
Freie Übertragung ins Hochdeutsche: Brigitte Lips