Der Untergründer Heinrich
Heinrich, ein junger Mann aus dem Untergrund (das sind die Schlitzerländer Dörfer, die von Hutzdorf aus fuldaabwärts liegen), hatte seine Einberufung zum Wehrdienst nach Gießen erhalten. Er freute sich darauf, ging an die Angelegenheit recht selbstbewusst heran und nahm an, dass ihm die neue Erfahrung gut tun werde. Von seinen Eltern bekam er zum Abschied nicht nur sechs Paar Strümpfe, sondern auch allerhand gute Ratschläge, sich auch ja anständig zu benehmen und unter all den fremden Männern ein braver Schlitzerländer zu bleiben. Gleichzeitig empfahl ihm sein Vater aber auch, den Aufenthalt in Gießen zu nutzen und viel zu lernen. Der Heinrich konnte seine Eltern beruhigen: Er werde es schon machen und schließlich habe er zu Weihnachten Urlaub und komme für zwei Wochen heim.
In Gießen ging es ihm gut, er kam mit allem zurecht und übte sich fleißig – und erfolgreich – im Zielschießen. Gerade letzteres scheint ihm aber zu Kopf gestiegen zu sein, und so machte er sich für seinen Urlaub besonders fein, polierte ausgiebig sämtliche Knöpfe seiner Uniform und stellte sich vor, was die Schlitzerländer zu einem so schmucken Kerl wohl sagen würden. Außerdem unterlag er dem unter sehr jungen Menschen anscheinend zu allen Zeiten verbreiteten Irrtum, dass seine Mitmenschen seinesgleichen noch nie gesehen hätten.
Als er im Dorf ankam, war es Abend und die Familie gerade im Stall mit dem Füttern beschäftigt. Alle liefen zusammen, um den Heinrich zu begrüßen. Der hielt dies für eine gute Gelegenheit, seinen Lieben mal zu zeigen, was er in Gießen alles gelernt hatte, und sagte seinen Gruß in reinstem Hochdeutsch auf – die Bauernsprache habe er nämlich verlernt, aber er sei sich sicher, dass ihn alle verstanden hätten.
Sein Verhalten wirkte offenbar einigermaßen schockierend auf die Anwesenden – die Magd konnte einen Schrei nur mit Mühe unterdrücken und alle schauten auf seinen Vater, wie der wohl mit Heinrichs neugewonnener „Vornehmheit“ umgehen werde.
Der Vater war um passende Worte nicht verlegen: Der Heinrich sei doch erst seit dem Herbst beim Militär – wenn er, der Vater, aber die Hofkatze nach Gießen schicken und statt nach ein paar Monaten erst nach drei Jahren zurückholen würde, werde die noch genauso maunzen wie die Katzen, die in der Zeit zu Hause gesessen hätten. Ein so frappierender Unterschied lasse nur einen Schluss zu: Der Heinrich sei dümmer als die Katzen!
Nach dieser empfindlichen Kopfwäsche zog Heinrich den Kopf ein und gab das Hochdeutschsprechen auf. So blieb er, was er war, ein Bauer aus dem Schlitzerland, und damit auf seine ganz eigene Art vornehm.
Freie Übertragung ins Hochdeutsche: Monika Lips