Die krummen Beine
Sippels Heinrich vom Siebertshof in Schlitz hatte von Natur aus krumme Beine. Extrem krumme Beine. Ihr müsst euch das vorstellen, die waren so krumm, dass mancher sich fragte, ob man vielleicht sogar ein Fass hindurchrollen könnte. Doch, wirklich! So krumm waren die. Das war aber nicht das Schlimmste an Sippels Hei. Und für die politisch Korrekten unter uns: Es ist natürlich überhaupt nicht schlimm, wenn einer krumme Beine hat. Es macht ihn nicht zum schlechteren Menschen als die anderen. Selbstverständlich nicht. Und es kommt auch nicht darauf an, ob man da ein Fass durchrollen kann. Würde ja auch niemandem was bringen. Aber es fällt einem halt auf. Ich glaube, darauf können wir uns einigen.
Wirklich schlimm an Sippels Hei war eigentlich nur sein Mund. Der war zwar nicht äußerlich besonders – oder zumindest wissen wir nichts darüber –, aber frech war er und laut und allgemein auf Streit aus. Der Heinrich jedenfalls, der legte sich mit jedem an. Was sich, wie überall auf der Welt, auch in Schlitz nicht alle gefallen lassen wollten.
Gnisse Ludwig zum Beispiel war einer von denen, die darauf keine Lust hatten. Der war friedlich und sprach nicht viel, aber eines Tages, er saß beim Bier bei Webers Will, hatte er von der ganzen Stänkerei genug. Er kam in Wut, sprang auf und rief: „Jetzt schweigst du still!“, worauf er dem Heinrich seinen Bierkrug, noch halbvoll – oder schon halbleer, sucht es euch aus –, über den Schädel zog.
Das Bier spritzte heftig und Heinrich ging in die Knie. Sein Kopf war noch ganz, Gott sei Dank, aber eine Riesenbeule blieb zurück. Etwas Gutes hatte er aber, der Schlag: Heinrichs freches Mundwerk war fürs Erste gestopft!
Und wie es nicht anders sein kann, die Sache ging vor Gericht. Heute Nachmittag um drei war der Termin. Als die beiden Übeltäter vor dem hohen Richtertisch standen, machten sie gar keine gute Figur, waren stumm wie die Fische, und der Ludwig tat, als hätte er nichts getan.
Der Amtsrat mit dem Richterhut schaute sich die beiden an und blickte streng und dachte sich dabei: „Was doch der eine Mann für krumme Beine hat!“
Darauf sah er den Ludwig an mit stechendem Blick an und redete ihm ins Gewissen: Was er sich denn dabei gedacht habe, den Schlag so mit voller Wucht zu führen. Ob er sich überhaupt klar sei, was das für Folgen haben könne! Und schaute wieder auf den Heinrich, der – das war unvermeidlich – auf krummen Beinen vor ihm stand.
Der Ludwig verstand die Blicke und die Worte miss, bekam es mit der Angst zu tun und dachte, es gehe jetzt erstmal um des Sippels krumme Beine. Glaubte, für die werde ihm nun auch noch der Prozess gemacht. Nein, nein, Herr Richter, das sehe es falsch, das hohe Gericht! Die krummen Beine, für die könne er nichts. Auf Ehrenwort, die habe er nicht gewollt. Und der Sippels Hei, der sei von Geburt an so, die krummen Beine, die habe der schon immer gehabt!
(Sehr freie) Übertragung ins Hochdeutsche: Monika Lips